Records Revisited: Mazzy Star – So Tonight That I Might See (1993)

05.10.2023
Genau, das hier ist diese Platte mit »Fade Into You«. Sie ist noch viel mehr als das – und kurz davor, zu viel mehr als das zu sein. Das Zweitwerk von Mazzy Star war ein dunkelbuntes Chaos.

Wer auch immer das Geschehen in Film und Fernsehen der letzten drei Jahrzehnte zumindest am Rande mitverfolgt hat, wird mit fast hundertprozentiger Sicherheit »Fade Into You« gehört haben. Der Opener des im Jahr 1993 veröffentlichten zweiten Albums von Mazzy Star, »So Tonight That I Might See«, wurde zu einem spät zündenden Hit in den Billboard Hot 100 und zeigt sich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Gruppe allein in den USA über eine Million Exemplare des Albums verkaufte. Die Platinum-Schallplatte erhielten sie aber erst anderthalb Jahre nach dessen Erstveröffentlichung. Zahllose Musikberater:innen brannten ihren musikalischen Beitrag ins kollektive Bewusstsein, weil sie mit »Fade Into You« ihre ultimative Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe-Lösung gefunden hatten.

Der Song ist in der Taktart eines Walzers gehalten, spricht aber von einem Klammerblues in Einzelhaft. Es ist ein Song über die Art von tiefschürfender Liebe, wie sie nur in unerwiderter Form überhaupt möglich ist: voller Hoffnung, aber auch Fatalismus. Das eben macht ihn zum perfekten Soundtrack für nervöse Teenie-Gefühle oder post-pubertäre Umtriebe. Eh klar, dass der Song bei »Daria« gespielt wurde. Eh klar, dass er in »Gilmore Girls« zu hören ist. Eh klar, dass selbst … äh, »Starship Troopers« nicht ohne ihn auskommt. Und eh klar, dass Jason Bailey ihn in einem Artikel für Flavorwire als allerersten der von ihm identifizierten »20 Most Overused Songs in Movies and TV« nannte.

Der Text von Bailey erschien im Jahr 2013 und damit zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Stücks. In der Zwischenzeit hätte Bailey seine sowieso schon überbordenden Liste eine Menge von Filmen und Serien – »American Honey«, »The Handmaid’s Tale«, »Riverdale«, »Yellowjackets«, und, eh klar, »Euphoria« – hinzufügen können. Vielleicht aber, ja, vielleicht wäre es stattdessen mal angebracht, über das von ihm eröffnete Album zu sprechen. Dieses ist voll von vergleichbar ambivalenten Stücken – saucool und schweinegefühlig zugleich. Und wer zur Hölle waren noch gleich Mazzy Star?

Existenziell distanziert

Eh klar, dass Mazzy Star aus Kalifornien kamen und dass die Wurzeln der Band im sogenannten Paisley Underground liegen. Diese durchpsychedelisierte Retro-Szene war die Ursuppe, aus der David Roback einst kroch, um sich als Songwriter und Gitarrist für Bands wie Rain Parade, Rainy Day und später Opal mit der Sängerin von Dream Syndicate, Kendra Smith, zu beweisen.

Im Jahr 1986 wurde Roback ein Demo des Duos Going Home zugespielt, das von zwei Musikerinnen in ihren frühen Zwanzigern eingespielt worden war. Eine von ihnen war schon als Teenagerin so dermaßen desillusioniert gewesen, dass sie überhaupt nicht zur Schule ging und stattdessen lieber mit ihren Platten zu Hause blieb. Sie hieß Hope Sandoval. Wenn sie nicht mit Sylvia Gomez als Going Home Musik machte, trat sie hier oder dort mit Bands wie Sonic Youth und Minutemen auf. Eh klar, dass Roback sich bereit erklärte, die beiden als Gitarrist zu unterstützen. 

Robacks Faible für den Sound der Sechziger und Sandovals schon-sehr-existenzielle-aber-irgendwie-distanzierte Darbietung fühlten sich am Vorabend der Grunge-Explosion tendenziell deplatziert an.

Nach der Veröffentlichung von Opals Debütalbum verließ Smith nach einer halb angebrochenen Tour im Vorprogramm von The Jesus & Mary Chain abrupt die Band und Sandoval sprang kurzerhand an ihrer Stelle ein. Auf Druck des damaligen Labels der Band, Rough Trade, gingen sie auch ins Studio, um die letzten Kreuze hinter ausstehende vertragliche Pflichten zu machen. Sandoval wurde schnell klar, dass sie nicht die Lieder anderer Leute singen wollte. Die unter dem Namen Mazzy Star neu formierte Gruppe schrieb sieben der insgesamt elf Stücke komplett neu.

»She Hangs Brightly« war abgründig und farbenfroh – eine Depression im Paisley-Muster. Es erschien im Jahr 1990 und also zeitgleich mit Alben wie »Bossanova« von den Pixies, »Ritual de lo Habitual« von Jane’s Addiction und »Goo« von Sonic Youth. Obwohl es sich eindeutig um ein Produkt desselben Zeitgeists handelte, war es zugleich um Längen introspektiver. Mazzy Star hatten mehr mit britischen Gruppen wie den Stone Roses gemein, obwohl sie freilich niemals in der Haçienda das Apothekerkästchen hinter der Bar leergeräumt hätten.

Alles in allem handelte es sich bei »She Hangs Brightly« um ein unzeitgemäßes Album. Robacks Faible für den Sound der Sechziger (die Menschen unter 40 Jahren, die im kulturellen Kontext der US-Indie-Explosion zur Slide-Gitarre griffen, lassen sich an einer Hand, wenn nicht einem Finger abzählen) und Sandovals schon-sehr-existenzielle-aber-irgendwie-distanzierte Darbietung (das Millennial-Mindset avant la lettre und/oder die Blaupause für die frühe Lana del Rey) fühlten sich am Vorabend der Grunge-Explosion tendenziell deplatziert an. Ein gutes Album war es dennoch.

Kein Song wie der andere – nicht nur im besten Sinne

»She Hangs Brightly« erschien auf einem kollabierenden Label und konnte dieses angesichts seiner mäßigen Verkaufszahlen auch nicht mehr retten. Schnell aber kreuzte der Major Capitol auf, vermutlich in der Hoffnung, die Erfolge der Pixies, Jane’s Addiction oder Sonic Youth ließen sich mit der Band wiederholen. Das taten sie auch irgendwie, nur brauchte die Sache noch etwas mehr Zeit oder zumindest ein zweites Video zur Single »Fade Into You«, dessen Californian-Gothic-Stimmung adäquat von flackernder Schwarz-Weiß-Ästhetik eingerahmt werden konnte. »So Tonight That I Might See« war am 5.Oktober 1993 veröffentlicht worden, ein breiteres Publikum bekam davon aber erst ab April 1994 Wind.

Wer »Tonight« wegen der Single gekauft hatte und ansonsten keinen blassen Schimmer von der Band dahinter hatte, dürfte beim ersten Durchlauf eine Enttäuschung erlebt haben. Die tamburingetriebene Verbeugung vor My Bloody Valentine in »Bells Ring«, die für die Generation X neu ausgerichtete Adaption von »The End« von den Doors in Form von »Mary of Silence« allein fühlen sich nach einer dezidiert inspirierten Ballade wie »Fade Into You« irgendwie nicht richtig an.

Was am Ende einer durchwachten Nacht mit »So Tonight That I Might See« übrig bleibt, sind zehn Songs, die getrennt voneinander betrachtet nahezu perfekt sind und in Kombination miteinander ein vollkommenes Chaos bilden

Tatsächlich aber waren sie weder epigonal noch einen Deut weniger bewegend – sie befanden sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort. »Fade Into You« an den Anfang zu stellen war ein gleichermaßen genialer wie dummer Schachzug im Kontext eines Albums, dessen größte Schwäche in seiner verworrenen Dramaturgie liegt.

Die bittersüßen Trauerweiden-Strings auf, äh, »Five Stringed Serenade« (im Original von Arthur Lee), der Psych-Pop-aber-Doo-Wop-aber-Surf-Rock-Amalgam von »Blue Light« und der Große-Gesten-Stadionrock mit Extra-Twang von »She’s My Baby« haben bei oberflächlicher Betrachtung ebenfalls wenig miteinander gemein. Und wenn ein Lollapalooza-Bewerbungsschreiben wie »Unreflected« von einer bierernsten Blues-Rock-Nummer wie »Wasted« gefolgt wird und darauf nach einer weiteren Akustikballade mit dem entgrenzten Titelsong zum Abschluss eine halluzinatorische Interpretation von Psych Rock (eher Les Rallizés Denudes als frühe Pink Floyd) steht – ja, was dann eigentlich?

Dann wird klar, dass keiner dieser Songs etwas mit dem vorangegangenen oder dem folgenden zu tun haben scheint. Das war Fluch und Segen von Mazzy Star.

Nahezu perfektes, vollkommenes Chaos

Was am Ende einer durchwachten Nacht mit »So Tonight That I Might See« übrig bleibt, sind zehn Songs, die getrennt voneinander betrachtet nahezu perfekt sind und in Kombination miteinander ein vollkommenes Chaos bilden. Roback und Sandoval mangelte es nicht an Ideen, selbst etablierte Formeln konnten sie von Neuem nach X auflösen. Das Problem bestand nicht etwa in einer Art künstlerischer Unschlüssigkeit, sondern vielmehr darin, dass sie keine Ahnung hatten, wie sich aus all dem ein sinnvolles Album zusammenbauen ließe. Eine atmosphärische Grundstimmung jedoch, dieser widersprüchliche Vibe ihrer Musik, sind allemal da.

Auf viele Arten ist »So Tonight That I Might See« just das, was von einem dermaßen begnadeten Duo zu erwarten war, das einfach nicht damit zurechtkommen wollte, dieses Band-Ding durchzuziehen, und das obendrein noch in dieser Größenordnung. Die Unterstützung eines Major-Labels hatten sie – den damit einhergehenden Druck ebenso. Mazzy Star verabschiedeten sich dann auch in eine Karrierepause, nachdem sie im Jahr 1996 ihr drittes Album »Seasons of Your Day« veröffentlicht hatten, ein ungleich kohärenteres und im Vergleich zu den Vorgängern unauffälliges Album. Mehr als anderthalb Jahrzehnte sollte es dauern, bis sie wieder eins einspielten.

Was Mazzy Star der Welt hinterließen – Gründungsmitglied und Drummer Keith Mitchell starb im Jahr 2017, Roback Anfang 2020 – mag zwar einer der am (viel zu) häufigsten verwendeten Musiktitel für die Untermalung von Film und Fernsehen sein. Aber da war noch viel, viel mehr. Mit seinem Stell-dir-eine-Black-Metal-Platte-von-Prince-vor-Cover-Artwork bis hin zu jedem sanften Zittern der unzeitgemäßen Slide-Gitarre ist »So Tonight That I Might See« ein dunkelbuntes Chaos wie kein anderes zuvor oder danach. Die Depression und die Begierden, die Anhedonie und der Existenzialismus – all das findet zu einer verworrenen Platte über die Wirrungen der menschlichen Erfahrung zusammen.