Beobachtungen nach einem Jahr Ampelkoalition

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Prolog

Digitalisierung der Justiz, aus Sicht von Spöttern ein Oxymoron, aber lassen wir das mal. Es ist aber nicht falsch, dass der Fortschritt bei der Digitalisierung im Schneckentempo stattfindet, wenn überhaupt, und das gilt nicht nur in der Justiz. Woran liegt es? Warum dauert in Deutschland alles so elend lang, gerade bei der Digitalisierung, warum bewegt sich nichts? An den Anfang kommt daher ein Zitat als These, aber von wem es stammt, erfahren Sie erst am Schluss:

„Wenn Deutschland und Europa anderen Wirtschaftsräumen bei der Digitalisierung hinterherhinken, dann fast nie, weil es Probleme mit Datenschutzvorschriften gibt, sondern weil Ressortdenken, Föderalismus oder Unterfinanzierung vorherrschen.“

Einleitung

In der vorangegangenen Ausgabe dieser Zeitschrift, die im Dezember 2021 erschien, behandelte ein Beitrag die Pläne der Ampelkoalition zu den Themen Justiz und Digitalisierung. Überschrieben war der Beitrag von Benedikt Kohn mit „e-Justice im Koalitionsvertrag – die Richtung stimmt“. Er listete für den Justizbereich die vier wesentlichen Themen auf, welche die Koalition sich vorgenommen hatte. Im Koalitionsvertrag, überschrieben mit „Mehr Fortschritt wagen“, heißt es dazu (S. 106):

„Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können. (…) Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.“

Fortschritt also. Das liest sich alles selbstverständlich, und nichts davon würde Deutschland an die Spitze der digitalen Entwicklung katapultieren, im Gegenteil: Hier soll nachgeholt werden, was seit Jahrzehnten geradezu vorsätzlich vernachlässigt wurde. Vor einigen Monaten ist eine Studie der Bucerius Law School und des Legal Tech Verbands Deutschland zum Stand der Justiz veröffentlicht worden, in der Deutschland mit Singapur, Kanada, Großbritannien und Österreich verglichen wurde und als Ergebnis herauskam, dass Deutschland 15 Jahre hinter diesen Ländern zurückliegt. 15 Jahre, fast vier Legislaturperioden.

Der Koalitionsvertrag berücksichtigt nicht, dass es der Justiz immer noch an Grundlagen fehlt, um überhaupt auch nur ernsthaft an die Digitalisierung denken zu können, denn: Eine digitale Infrastruktur, etwa eine elektronische Gerichtsakte, gibt es noch nicht flächendeckend: Erst zum 01.01.2026 soll es so weit sein, und das Gesetz über die Einführung der elektronischen Akte stammt aus dem Jahr 2017. Fast zehn Jahre Zeit. Einige Bundesländer sind schon ziemlich weit, andere haben bereits angekündigt, es wahrscheinlich nicht zu schaffen – Bremen zum Beispiel, das ist vielleicht verkraftbar, aber auch ein Land wie Hessen hat oder hatte offenbar Schwierigkeiten. Und natürlich Berlin: Da sagte die zuständige Senatorin Anfang des Jahres, die Einführung der E-Akte sei „ein extrem anspruchsvolles Projekt, da wir es natürlich mit hochsensiblen Daten zu tun haben. Mein Ansinnen ist es, hier lieber gründlich zu arbeiten, als an einen Punkt zu kommen, wo wir etwas Wichtiges übersehen …“

Nota bene, hier geht es um eine E-Akte, doch sei’s drum. Man will ja nicht gleich wieder schlecht über Berlin denken, aber es würde einen irgendwie schon überraschen, wenn hier mal etwas klappen würde, zumal nach der Pannenwahl neu gewählt werden muss, und wie die politische Zusammensetzung und Senatsverteilung dann aussieht, wird man sehen.

Kurz: Ob die Justiz Anfang 2026 flächendeckend eine funktionierende E-Akte hat, ist nicht sicher. Sollte das aber so sein, dann steht heute bereits fest: Es werden drei verschiedene Systeme sein, die vielleicht miteinander kompatibel sind, und wie es mit der Anbindung an Bundesgerichte aussieht, kann noch niemand sagen. Auch wie elektronische Behördenakten als Beiakte zu einer gerichtlichen E-Akte genommen werden können (Alltag in der verwaltungsgerichtlichen und sozialgerichtlichen Fachgerichtsbarkeit), kann auch niemand beantworten. Es ist alles nicht wirklich schön.

Der Koalitionsvertrag und seine Vorgänger

Wenn man die Koalitionsverträge der Großen Koalition aus den Jahren 2013 und 2018 liest, stellt man fest, dass es gute Vorsätze zur Digitalisierung und besseren Ausstattung der Justiz schon immer gab. Das, was heute „Glasfaser“ heißt, hieß auch 2018 schon so, während der Koalitionsvertrag von 2013 den Begriff nicht kennt, sondern von „Breitband“ sprach (damals mit einem geradezu beklagenswert mickrigen Ziel hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung, aber das ist Geschichte).

Immerhin gab es in der letzten Legislaturperiode einen „Pakt für den Rechtsstaat“, in dessen Folge die Justiz mit viel Geld für neue Stellen ausgestattet wurde. Von Digitalisierung war beim ersten Pakt nicht die Rede, nur von neuen Stellen. Inzwischen gibt es den Digitalpakt, verbunden mit heftigem Streit zwischen Bund und Ländern darüber, ob das alles reicht. Wenn man kurz innehält und an das an den Anfang gestellte Zitat denkt: leider richtig. Föderalismus und Unterfinanzierung. Was ist eigentlich das „Narrativ“ dafür, dass Justiz zwar Sache der Länder ist, die aber in ihren zweimal jährlich stattfindenden „JuMiKos“, den Justizministerkonferenzen, hauptsächlich den Bund „bitten“, dies oder das zu tun und auf jeden Fall mehr Geld loszueisen? Man könnte schon meinen, dass das Gebot der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse gerade bei Justiz, Bildung und Sicherheit bundeseinheitliche Strukturen und Verhältnisse erfordert.

Digitalstrategie

Der Ampelkoalition war klar, dass man mit den guten Vorsätzen aus dem Koalitionsvertrag nicht weit kommt. Ende August 2022 hatte die Bundesregierung ihre Digitalstrategie verabschiedet. Diese Strategie betrifft alle Lebensbereiche, auch die Justiz. Angesichts des heutigen Stands ist es ein unglaublich ambitioniertes Unterfangen. Die Bundesregierung war so mutig, für jeden einzelnen Bereich klare Ziele zu benennen. Für die Justiz heißt es:

„Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob:

  • die gesetzliche Regelung für die Erprobung vollständig digital geführter Zivilverfahren geschaffen und an einzelnen Pilotgerichten mit der Erprobung vollständig digital geführter Zivilverfahren begonnen wurde.
  • für eine bundesweit einsetzbare Software für Justizdienstleistungen in einer digitalen Rechtsantragstelle bis Ende 2023 ein Minimum Viable Product (MVP) entwickelt wurde und bereits erste Justizdienstleistungen in einer digitalen Rechtsantragstelle angeboten werden.
  • die gesetzliche Regelung für die digitale Aufzeichnung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung in Bild und Ton mit automatisiertem Transkript geschaffen wurde.
  • das bundeseinheitliche Videoportal der Justiz deutschlandweit für Videoverhandlungen und Online-Termine der Justiz spätestens ab 2024 genutzt werden kann.
  • Gesetze und Verordnungen elektronisch verkündet werden.
  • eine Schnittstelle für die kontrollierte Übergabe von Justizdaten zur Ermöglichung KI-gestützter cloudbasierter Justizdienste geschaffen wurde.
  • wir ein Konzept für eine bundesweite Justizcloud der Zukunft entwickelt haben.“

Das ist keinesfalls unambitioniert, auch wenn einige Themen schon etwas Patina haben. Aber trotzdem ist zu hoffen, dass diese Projekte auch umgesetzt werden. Darf man optimistisch sein? Dazu eine Beobachtung aus der traurigen Gegenwart: Mit der Verkündung der Digitalstrategie hatte die Bundesregierung einige besonders wichtige Ergebnisse herausgestellt, die bis 2025 erreicht werden sollen, unter anderem:

  • die Hälfte aller Haushalte und Unternehmen hat Glasfaseranschlüsse.
  • die elektronische Patientenakte wird von mindestens 80% der gesetzlich Krankenversicherten genutzt und das E-Rezept als Standard etabliert.

Was kann man dazu anderes sagen als „Go ahead!“? Allerdings … die Sache mit den Glasfaseranschlüssen, die kennt man schon. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition 2018 hieß es auch schon, dass bis 2025 „Glasfaser in jeder Region und jeder Gemeinde [vorhanden ist], möglichst direkt bis zum Haus. Schulen, Gewerbegebiete, soziale Einrichtungen in der Trägerschaft der öffentlichen Hand und Krankenhäuser werden wir bereits in dieser Legislaturperiode direkt an das Glasfasernetz anbinden.“

Das heißt wohl, dass das sehr ambitionierte Ziel aus dem Jahr 2018 kassiert worden ist. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass die Ampelkoalition realistischer ist – oder sollte es betrüben, dass das Glasfaserziel eher unambitioniert ist? Egal, wir stehen, wo wir stehen.

Das andere so wichtige Ziel – E-Rezept als Standard – wurde gerade beerdigt. Solche E-Rezepte gibt es bereits in 17 europäischen Ländern, in einigen in Kombination mit einer E-Patientenakte. Deutschland hinkt, wie üblich, hinterher. In Westfalen-Lippe lief ein Pilotverfahren, das Anfang November eingestellt worden ist, nachdem der Bundesdatenschutzbeauftragte ein Veto eingelegt hatte. Die Datensicherheit war schon lange streitig. Warum die Datensicherheit in den anderen Ländern, in denen die DSGVO genau so gilt wie hier, kein Thema ist, kann niemand sagen. Ob es noch was wird? In der Berichterstattung über den gescheiterten Piloten erfährt man staunend, welche Verbände, Interessengruppen, Gesprächskreise und sonstigen Bedenkenträger an diesem Projekt mitwirken – typisch deutsch geradezu, also ohne Führung, Struktur, Plan und Entscheidungsbefugnisse. Das E-Rezept ist das Memento Mori der Digitalstrategie. Die Frage ist, was das für die anderen wichtigen Ziele der Digitalstrategie bedeutet, etwa für die Justiz.

Was tun?

Anfang November fand in Berlin eine zweitägige Konferenz mit dem Titel „Digital Justice Summit“ statt. Gut 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, überwiegend aus der Justiz, aber auch aus der Verwaltung und aus IT-Unternehmen. Wenn man sich die Vorträge und die Diskussionen betrachtete, fragte man sich schon, warum man von außen den Eindruck bekommt, in der Justiz bewege sich nichts voran. Spöttische Bemerkungen über fehlende Veränderungsbereitschaft der Justiz kommen immer gut, aber tatsächlich sind das nicht die Gründe für die Umsetzungsschwierigkeiten. Denn wenn man den anwesenden Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte oder anderer Gerichte zuhörte, gab es ohne Ausnahme klare Plädoyers für die Umsetzung der digitalen Transformation der Justiz.

Ohne hier in den Verdacht des Föderalismus-Bashing geraten zu wollen: Man kann aber keine deutschlandweiten Projekte umsetzen, wenn es keine vernünftige und gesicherte Finanzierung und keine klaren Projekthierarchien einschließlich entscheidungsbefugter Führung gibt. Die derzeit existierenden Strukturen – überwiegend koordinierende länderübergreifende Gremien ohne Entscheidungsbefugnis – führen dazu, dass die Entwicklung der Justiz letztlich vom politischen Dafürhalten der einzelnen Länder abhängt, auch von der Kompetenz der jeweiligen Amtsinhaber. Die Ergebnisse sprechen gerade nicht dafür, dass diese Strukturen sinnvoll sind, im Gegenteil: Der Stand der Dinge ist bei bundesweiter Sicht einfach beschämend. Das gilt auch trotz derjenigen Landesjustizministerinnen und -minister, die in ihren Ländern deutlich weiter sind. Vermutlich ließe sich eine Entwicklung nur bewerkstelligen, wenn es eine zentrale Stelle gäbe, die für die Finanzierung zuständig ist und wo Länder Input geben, aber nicht entscheiden können und folglich auch kein Vetorecht haben. Wäre so etwas mit dem Föderalismus vereinbar? Warum nicht? Wäre das politisch durchsetzbar? Warum nicht?

 

Epilog

Ich schulde Ihnen noch die Antwort auf die Frage, von wem das Zitat zu Beginn dieses Beitrags stammt. Es war der Bundesdatenschutzbeauftragte, Prof. Ulrich Kelber, der in einem Vortrag im August 2020 beim Cyber Security Tech Summit Europe 2020 schilderte, wie seine Behörde durch den Lockdown gekommen sei, nämlich: prima. Laptops für alle, mobiles Arbeiten, E-Akte, Videokonferenzsysteme, alles da. Woanders hieß es oft, all dies verbiete „der Datenschutz“. Vielleicht muss man mal etwas mit dem Datenschutz entwickeln, nicht gegen oder ohne ihn?

Wie dem auch sei: Das Zitat hat sicher auch Selbstverteidigungscharakter, aber einen sehr wahren Kern. Wenn es nicht gelingt, dieses Ressortdenken, die föderale Unbeweglichkeit und die Schockstarre angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung zu überwinden, wird die Justiz weiter zurückfallen.

 

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Hinweis der Redaktion

Folgende Quellen verwendet unser Autor in seinem Beitrag:
1. Ampel-Koalitionsvertrag 2021 (da gibt es mehrere Versionen im Netz, hier ist die Landing Page der Bundesregierung mit der „offizielle Version“).
2. Koalitionsvertrag 2018, siehe hier.
3. Koalitionsvertrag 2013, siehe hier.
4. Digitalstrategie des Bundes, siehe hier.
5. Vortrag des Bundesdatenschutzbeauftragten Kelber von August 2020, siehe hier.
6. Beitrag Kohn in e-Justice 01/2021, siehe hier.
7. Studie Bucerius/Legal Tech Verband zum Stand der Justiz, Juni 2022, siehe hier.
8. Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte usw., siehe hier.
9. Interview des Berliner Anwaltsblatts mit der Berliner Justizsenatorin Dr. Lena Kreck: Heft 4/2022 des Berliner Anwaltsblatts, S. 117–119, das Zitat steht auf S. 118, r. Sp. unten.
10. Bericht über Einstellung des Pilotverfahrens E-Rezept (war auch in vielen anderen überregionalen Zeitungen, hier ohne Paywall).
11. Streit Bundesländer mit Justizminister Buschmann (in vielen Zeitungen, hier ohne Paywall).
12. Konferenzhomepage des Digital Justice Summit, siehe hier.

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