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"Ist mir alles zu viel" Warum Abgrenzung von anderer Menschen Probleme ungesund sein kann

Psychologie: Illustration einer Frau
© Elle Arden / Adobe Stock
Neben dem eigenen Leben die Probleme anderer Menschen mit zu tragen und zu bewältigen, erscheint unmöglich und kann sich schnell als zu viel anfühlen. Sich deshalb jedoch von belasteten und belastenden Personen abzuwenden, ist offenbar nicht immer der gesündeste Weg, wie eine internationale Studie nahelegt.

Es tut weh, andere Menschen leiden zu sehen. Die Betroffenen von Kriegen, Verbrechen, Naturkatastrophen, Hunger und Armut, von denen wir aus Medienberichten wissen. Die Leute, denen wir auf der Straße begegnen oder in der Bahn und die uns um Kleingeld für etwas zu essen bitten. Und die Menschen in unserem Umfeld, die plötzlich nicht mehr leben können, ohne sich täglich zu betrinken. Die von ihren Ängsten beherrscht sind und es deshalb nicht mehr schaffen, zuzuhören oder vor die Tür zu gehen. 

Unsere Möglichkeiten, anderen Menschen zu helfen, sind begrenzt, in vielen Fällen geradezu verschwindend klein. Deshalb erscheint es naheliegend, nachvollziehbar und entschuldbar, wenn wir uns eine gewisse Ignoranz zugestehen. Wenn wir uns abgrenzen und distanzieren. Um uns selbst zu schützen vor dem Schmerz und der Niedergeschlagenheit, den unser Mitgefühl mit sich bringt. Unsere eigenen Probleme haben wir schließlich auch noch zu bewältigen.

Studie: Angst vor Mitgefühl könnte ungesund sein

Eine Studie der Universität Coimbra in Portugal unter der Leitung der Psychologin Marcela Matos bietet Anlass, an der Abgrenzungsstrategie zu zweifeln oder den Umgang mit anderer Menschen Leid und Problemen zumindest differenzierter zu betrachten, als wir es manchmal vielleicht tun. Die Studie fand 2020 während der Coronapandemie statt und es nahmen rund 4.000 Versuchspersonen aus unterschiedlichen Ländern daran teil. Mithilfe einer Online-Befragung untersuchten die Forschenden den Zusammenhang zwischen der Einstellung zu Mitgefühl und genereller psychischer Gesundheit und stellten fest: Personen, die Furcht vor Mitgefühl zeigten und es weniger zuließen, neigten eher zu Ängsten, depressiven Episoden und starken Stressreaktionen während der Pandemie als jene, die keine Vorbehalte gegenüber Mitgefühl aufwiesen. 

Das Ergebnis dieser Studie ist für sich genommen eine interessante Beobachtung, sagt allein aber noch nicht unbedingt etwas über den Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Mitgefühl und psychischer Belastbarkeit aus – zum Beispiel könnte es sein, dass Menschen, die gesundheitlich instabiler sind, einen höheren Bedarf verspüren, sich selbst zu schützen und deswegen befangener im Mitfühlen sind. Es gibt jedoch noch weitere Studien zu dieser Thematik, die den Forschenden Grund zu der Annahme geben, dass ein anderer Zusammenhang wahrscheinlicher ist: Dass sich Mitgefühl positiv auf die mentale Gesundheit der Person auswirkt, die es zulässt und verspürt.

So hat eine neurologische Untersuchung ergeben, dass das Trainieren von Mitgefühl unser parasympathetisches Nervensystem aktiviert, das, vereinfacht gesagt, dafür zuständig ist, dass wir uns von Stress erholen, beruhigen und entspannen. “Mitgefühl ist die Motivation, aufmerksam und sensibel gegenüber Leiden zu sein", zitiert "Greater Good Magazine" Marcela Matos. "Die Aktivierung dieser Motivation ist mit sehr wichtigen physiologischen Regulatoren unseres eigenen Wohlbefindens verknüpft."

Gesunde Abgrenzung: Grenzen erkennen, nicht ziehen

Einen passenden Umgang mit Leid und Problemen zu finden – sowohl mit den eigenen wie mit denen anderer Menschen –, ist sicher nicht immer leicht und selbstverständlich. Wir können nicht von morgens bis abends an all die Menschen denken, denen es schlecht geht, und uns in unserer Verbundenheit mit ihnen traurig und bedrückt fühlen. Nicht an die Menschen, deren Namen wir nicht kennen, und nicht an die Menschen, ohne die wir uns ein Leben nicht vorstellen mögen. Auf der anderen Seite scheinen wir weder unseren Mitmenschen noch uns selbst einen Gefallen zu tun, wenn wir unseren Blick gezielt und vorsorglich von ihnen abwenden und unser Mitgefühl für sie unterdrücken. Und allein die Tatsache, dass wir Mitgefühl empfinden können, legt nahe, dass dieses Gefühl sinnvoll und berechtigt ist, genau wie Freude, Angst, Ekel oder Wut. Was nun? 

Vielleicht können wir ein passendes und zu bewältigendes Maß an Mitgefühl für uns finden, indem wir lernen zu vertrauen – darauf, dass wir spüren, wenn es uns zu viel ist, und dass wir deshalb gar nicht fürchten müssen, dass es zu viel werden könnte. Schließlich sind wir als Menschen dazu in der Lage, miteinander zu leben, Probleme gemeinsam zu bewältigen, unser Leid zu teilen und zu fühlen. Wir müssen also theoretisch über alle notwendigen Mittel und Fähigkeiten verfügen, um damit zurechtzukommen, ohne daran zu zerbrechen. Manchmal scheint es uns schwer zu fallen, auf diese Mittel zu vertrauen, deshalb stellen wir sie im Zweifel lieber gar nicht auf die Probe. Doch vielleicht könnten wir das öfter tun. Denn unter Umständen besteht eine gesunde Abgrenzung manchmal nicht darin, Grenzen zu ziehen, sondern sie zu erkennen. 

Verwendete Quellen: greatergood.berkeley.edu, nature.com

sus Brigitte

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